Das Böse beginnt niemals dort, wo es endet

Bäume schwarz weiß

Am 09.11. findet zum 85. Mal der Gedenktag an die Novemberpogrome statt – spätestens in jener Nacht 1938 wurde der Judenhass des Nazi-Regimes deutlich. Die Holocaust-Forscherin Susanna Kokkonen weiß: Die Wurzeln des Judenhasses reichen viel weiter zurück. In einem Textauszug aus dem Buch «Holocaust» erklärt sie, wie es dazu kommen konnte – und warum wir heute Verantwortung für die Zukunft tragen.

Untersuchen wir den Holocaust, stoßen wir auf viele geistliche und emotionale Fragen, welche die gesamte Menschheit betreffen. Der Mensch steht im Mittelpunkt der Geschichte, denn das Geschehen zeigt insbesondere, welche Folgen unsere Entscheidungen haben. Wie treffen wir Entscheidungen in Extremsituationen? Wie kommt es, dass Menschen aus derselben Kultur zu so unterschiedlichen Lösungen gelangen?

Wir können unsere Aufmerksamkeit dabei keinesfalls nur auf die Führungsriege der Nazis oder ihre Opfer richten; die meisten Menschen jener Zeit führten ein ganz normales Leben, genau wie meine Leser und ich. Ihre Geschichten sind in Vergessenheit geraten; aber könnte es sein, dass in der Normalität ihres Lebens und seinen Umständen viele Antworten verborgen sind? Wir müssen die Kluft zwischen unserem Alltag und dem der Zeitgenossen des Holocaust überwinden und sie als Menschen wie du und ich betrachten.

Gleichzeitig können wir lernen, unser Umfeld aus einer anderen, kritischeren Perspektive zu beleuchten: Wer oder was bestimmt unsere Überzeugungen? Inwieweit ist ein Bürger verpflichtet, den geltenden Gesetzen zu gehorchen? Was ist die Verantwortung jedes Einzelnen, wenn Gesetze ethisch-moralischen Grundsätzen widersprechen?

Welche Gefahren der modernen Technik bedrohen unsere Freiheit? Zwar war die Technik zur Zeit des Holocaust im Vergleich zu heute fast rudimentär, dennoch spielte sie bei dem Völkermord eine wichtige Rolle.

In welcher Form tritt Antisemitismus heute auf, und was begünstigt sein Auftreten? Welche Meinungen sind verboten? Wohin führt das Verbot bestimmter Ansichten uns als Gesellschaft?

Diese und viele weitere Fragen stellen sich, wenn man den Holocaust genauer untersucht. In jenem ganzen Prozess halte ich die Leichtigkeit und Ungezwungenheit, mit der die Strukturen der Gesellschaft verändert wurden, für das beängstigendste Element. Ein Schritt in die falsche Richtung, ein neues Gesetz, eine ignorante Person, die eine falsche Entscheidung trifft – mehr braucht es nicht. Tatsächlich besteht unser Leben aus vielen einzelnen Entscheidungen, die wir tagtäglich treffen; wie viele davon sind gut informierte und bewusste Entscheidungen? Wie oft wählen wir den Weg des geringsten Widerstandes, ohne die Umstände in ihrer Gesamtheit zu beurteilen?

Nazi-Deutschland ist nur ein Beispiel dafür, wohin falsche Entscheidungen führen können; damals wurde schon lange vor der Wahl Hitlers ein Gesamtprozess in Gang gesetzt. Nach seiner Wahl entwickelten sich die Dinge in einem höheren Tempo, doch jeder neue Schritt, jedes neue Gesetz und jeder neue Mord gaben den Zuschauern die Möglichkeit, darauf zu reagieren.

Hätte ein Zugführer den Zug auch am falschen Ort halten lassen können? Hätte ein Arzt einen behinderten Menschen auch für gesund erklären können? Wählen wir das Schweigen, weil wir den Gedanken an das Opfer nicht ertragen können, das wir erbringen müssten, wenn wir die Wahrheit sagten? Das Problem wird aktuell, wenn eine grundsätzlich gute Gesellschaft sich so verändert, dass wir mit ihren Werten nicht mehr übereinstimmen können. Wie reagieren wir in einer solchen Lage? [...]

Eine Methode, den Glauben (in diesem Falle meinen christlichen Glauben) zu betrachten, besteht darin zu untersuchen, wie er sich den Menschen in meinem Umfeld bzw. mir selbst gegenüber positioniert. Nehmen wir dieses Prinzip als Grundlage, können wir es auf die Situation der christlichen Welt nach dem Holocaust anwenden. Es ist sehr einfach, mit dem Finger auf Menschen zu zeigen, die vor uns gelebt haben. Doch das Problem besteht darin, dass wir in Wirklichkeit nicht besser sind als sie. Wenn die christliche Welt die Zeit des Zweiten Weltkriegs nur mit knapper Not überstanden hat, was sagt das über unsere Gegenwart aus? Warum ist die Beschäftigung mit dem Holocaust an und für sich wichtig? Der katholische Priester und Holocaustexperte Michael McGarry hat den Holocaust als Teil der christlichen Geschichte bezeichnet. Er betonte, dass für Christen folgendes Verständnis wichtig sei: Wir beschäftigen uns nicht nur deshalb mit dem Holocaust, weil es sich um jüdische Geschichte handelt: «Wir erforschen also nicht, was mit ihnen geschehen ist, sondern was mit uns passiert ist.»

Wir alle kennen die Helfer von Anne Frank oder die Geschichte der Familie von Corrie ten Boom. Die Christen der damaligen Zeit haben wir entweder als Helden in Erinnerung oder als furchterregende, unchristliche KZ-Aufseher; doch um die Wahrheit zu erkennen, müssen wir einen tieferen Blick wagen.

Bis in die 1990er Jahre überließ man es allein den Juden, an den Holocaust zu erinnern und ihn zu erforschen. Der Gedanke erscheint uns unmöglich, doch tatsächlich waren es jahrzehntelang nur die Opfer des Verbrechens, die an dieses Thema erinnerten, es ergründeten und darüber lehrten. Obwohl die Täter, die schweigenden Zuschauer und die wenigen Retter Nichtjuden waren, überließ man die Erinnerung an das Verbrechen ausschließlich den Opfern.

In diesem kritischen Moment, in dem christliche Werte hätten praktiziert werden sollen, funktionierten sie nicht. Wir müssen verstehen, warum das geschah. – Könnten unsere Werte erneut auf den Prüfstand gestellt werden? Leider müssen wir diese Frage bejahen. Werte sind zudem nur dann nützlich, wenn sie sich im Moment der Krise bewähren. Schließlich: Hat es jemals eine Generation gegeben, deren Werte nicht getestet wurden? [...]

 

Unter Christen hört man immer wieder bestimmte Aussagen, wenn es um den Holocaust geht. Ich werde sie hier erörtern, damit wir uns mit ihnen auseinandersetzen können – und möglicherweise erkennen, warum oberflächliche Erklärungen nicht ausreichen. Wir können nicht einfach die unangenehmen Seiten aus unseren Geschichtsbüchern herausreißen, sondern müssen uns der Wahrheit stellen.

Wie konnte im christlichen Europa der Holocaust geschehen? Hier eine Erklärung, die ich auf christlichen Konferenzen, insbesondere in evangelikalen Kreisen, schon oft gehört habe: Der Nationalsozialismus war eine antichristliche Ideologie; da das Christentum seine Wurzeln im Judentum habe, könne es niemals antijüdisch sein.

Natürlich enthält diese Behauptung ein Körnchen Wahrheit: Der Nationalsozialismus war antichristlich, das wissen wir von Hitler selbst; doch leider schenkten die Kirchenführer Hitler keinen Glauben, sie gingen lieber Kompromisse ein und arrangierten sich mit ihm.

Der zweite Satz, das Christentum könne gar nicht antijüdisch sein, ist schwieriger zu akzeptieren und zu verstehen; denn betrachten wir das Christentum und seine Geschichte, so fällt es schwer, dieser Aussage Glauben zu schenken ...

aus: Holocaust. Die Geschichte von Hass und Verfolgung gegen Gottes Volk. – Dr. Susanna Kokkonen, S.272–279

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