Dallas Willard: Wie die Kirche an Kraft gewinnt

Frau schaut in Sonnenuntergang

Dallas Willard war ein US-amerikanischer Philosoph, geistlicher Schriftsteller und evangelikaler Vordenker. Er hat das evangelikale Denken in den USA geprägt und erneuert. In "Gott. Du musst es selbst erleben." gibt uns Willard eine neue Perspektive auf das Evangelium. Ein Auszug.

Wie hört sich die große Einladung zum Leben heute an?

Ein Autoaufkleber bringt die kleine Botschaft sanft auf den Punkt: «Christen sind nicht besser, aber besser dran». In einem Song von Simon & Garfunkel heißt es, die Worte der Propheten stünden an den Wänden der U-Bahn. Wo es keine U-Bahn gibt, da tut es eben auch die Stoßstange.

«Besser dran»? Ist das wirklich alles, was das Christsein ausmacht? Das Geschenk des ewigen Lebens lässt sich auf diesen Slogan reduzieren? Was für ein Rückschritt im Vergleich zum Leben der ewigen Art jetzt und heute!

Natürlich sind Christen nicht perfekt. Es besteht immer die Notwendigkeit zur Verbesserung. Aber zwischen perfekt sein und «besser dran», wie es heute verstanden wird, ist schon noch ein Riesenunterschied. Man kann viel mehr sein als «besser dran» und trotzdem noch nicht perfekt. Vielleicht könnte man sogar jemand sein, in dem das ewige Leben, wie Jesus es schenkt, vorherrscht und trotzdem noch Raum zum Wachstum bleibt.

Doch mittlerweile hat die Aufkleber-Theologie den Autoverkehr verlassen und befindet sich jetzt auf allem möglichen Plunder. Da ist beispielsweise ein Lesezeichen, geschmückt mit Blumen, Kränzen, grünen Zweigen, vierzehn winzigen rosa Herzen und einer Quaste am oberen Ende. In der Mitte befindet sich ein Teddybär, der den Betrachter verlegen anschaut, als hätte er gerade etwas Unartiges getan. Die Botschaft darunter lautet – Sie ahnen es sicher schon: «Christen sind nicht besser, aber besser dran».

Natürlich muss gesagt werden, dass Christen besser dran sind, weil sie Vergebung empfangen haben. Und es ist auch wichtig zu betonen, dass Vergebung nicht von einem perfekten Verhalten abhängt. Aber ist das wirklich die Botschaft dieses Slogans?

Leider nicht. Was dieser Slogan in Wirklichkeit vermittelt, ist, dass es im Christentum allein um die Vergebung gehe, dass diese das einzig Wesentliche sei.

Er sagt aus, dass wir an Christus glauben können – was uns die Vergebung beschert – und uns trotzdem in allen anderen Bereichen unseres Lebens durch nichts von anderen unterscheiden, die gar nicht an Christus glauben. Diese Ansicht, die so wohlgefällig auf Autoaufklebern und anderem Plunder daherkommt, hat tiefe historische Wurzeln. Sie wurde mittlerweile in vielen theologischen Bänden sachlich und nüchtern ausgearbeitet und wird von zahlreichen Menschen gelebt, die sich selbst aufrichtig als Christen bezeichnen.

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Einige verblüffende Tatsachen

Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup glauben 94 Prozent der Amerikaner an Gott, und 74 Prozent sagen, sie hätten ihr Leben Jesus Christus anvertraut. Etwa 34 Prozent bekennen sich zur Erfahrung einer «Wiedergeburt». Diese Zahlen sind schockierend, wenn man sie mit den Statistiken derselben Gruppe zu den Themen unethisches Verhalten, Kriminalität, psychische Störungen, familiäres Scheitern, Suchterkrankungen, finanzielle Fehlentscheidungen usw. vergleicht. Natürlich gibt es immer glänzende Ausnahmen. Aber kann eine solche Kombination von Bekenntnis und Versagen wirklich das «Leben in Fülle» sein, das Jesus uns geben wollte? Oder haben wir unsere «Lebensübergabe» an Christus vielleicht so falsch interpretiert, dass diese uns nicht dazu verhilft, seine lebendige Gegenwart in unserem Leben zu erfahren? Ohne Frage hat Letzteres sich ereignet, und das mit herzzerreißenden Folgen.

Eine der führenden christlichen Zeitschriften in den USA berichtete von einem Gerücht, wonach eine Führungspersönlichkeit einer evangelikalen Institution ihren Rücktritt aufgrund eines «moralischen Fehlverhaltens» erklärt habe. Das Gerücht wurde bestätigt, aber die Zeitschrift entschloss sich, nicht weiter über den Fall zu berichten.

Die Herausgeber begründeten diese Entscheidung damit, dass solche Fälle mittlerweile sehr häufig vorkämen und sie deshalb Kriterien dafür entwickeln mussten, welche davon wichtig genug für eine Berichterstattung seien. In dem geschilderten Fall erschien kein Artikel, weil «die betreffende Person nicht der obersten Führungsetage angehörte».

Das Hauptthema des Leitartikels war die Macht und Geschwindigkeit, mit der sich Gerüchte in solchen Fällen ausbreiten. Allerdings regen diese Fälle – ganz abgesehen von der Gerüchteküche – uns zu einem tieferen Nachdenken darüber an, wie der Glaube und das Innenleben der geistlichen Führungskräfte und der vielen Christen, die sich an der Gerüchteküche beteiligen, eigentlich aussehen sollten.

Sollen wir etwa annehmen, dass alle Menschen, von Mutter Teresa bis Hitler, innerlich in Wirklichkeit gleich sind und dass nur einige davon wachsam genug sind oder einfach nur «Glück gehabt» haben, weil sie das vermieden haben, was wir alle am liebsten tun würden? Sollen wir davon ausgehen, dass Gott uns nichts an die Hand gibt, was unseren Charakter und unsere Spiritualität wirklich verändert? Hat Jesus denn gar keinen wesentlichen Einfluss auf unser «reales Leben»?

Helmut Thielicke schreibt an einer Stelle, wir würden uns oft fragen, ob die berühmten Persönlichkeiten, die für bestimmte Speisen und Getränke werben, diese auch selber konsumieren. Dann fährt er fort, dies sei genau die Frage, die sich allen, die sich zu Christus bekennen, am drängendsten stelle. Mit Sicherheit muss etwas schiefgegangen sein, wenn moralisches Fehlverhalten unter uns so massiv und weitverbreitet ist. Vielleicht essen wir tatsächlich nicht das, was wir verkaufen. Oder, was meiner Ansicht nach noch wahrscheinlicher ist: Was wir «verkaufen», ist für unsere reale Existenz unbedeutend und hat keinen Einfluss auf unseren Alltag.

Verändert Gott uns oder nicht?

Ein bekannter Leiter, der fast sein ganzes Leben im Dienst für Christus verbracht hat, die meiste Zeit auf nationaler Ebene, feierte kürzlich seinen 50. Geburtstag. Im Rückblick stellte er in seiner monatlich in einer Zeitschrift erscheinenden Kolumne fest, sein Glaube habe in den vergangenen vierzig Jahren «so manche Prügel einstecken müssen». Von seiner Bekehrung im Alter von zehn Jahren an sei er immer gelehrt worden: «Wenn ich ein Christ sei, dann würden das andere Menschen deutlich an meinem Leben erkennen!!! Und … je näher ich Gott sei – das heißt, je geistlicher ich sei –, desto deutlicher und sichtbarer wäre dies» (Hervorhebung von mir).

Mit seinen fünfzig Jahren hat er viele seiner Mentoren «stolpern und fallen sehen, sodass ihr Glaube sich nie wieder davon erholte». Er sah «so viele ‹Wahrheiten› in Bezug auf das Evangelium, die sich später als falsch erwiesen; so viele Opfer, so viele Verluste, so viele Behauptungen, die sich als genau das herausstellten – Behauptungen und nicht die Wahrheit». Am Ende kommt er zu dem Schluss: «Ich glaube das alles nicht mehr.»

Er glaubt zwar immer noch, dass Jesus uns verändert, aber seine Definition von «Veränderung» hat sich gewandelt. «Was auch immer die Veränderung ist, sie ist nicht so sehr äußerlich als innerlich. Die Wandlung, die Gott herbeiführt, ist oftmals nur für ihn sichtbar … und für niemanden sonst. … Ich habe meinen Glauben nicht abgelegt, aber ich habe meine Sicht des Glaubens abgelegt. … Das Leben ist anders. Aber was genau anders ist, das ist anders, als ich dachte.»

Das legt nahe, dass die Veränderung, die jemanden zum Christen macht, was auch immer das bedeutet, aus menschlicher Sicht völlig unsichtbar sein kann. Nur Gottes «Scanner» kann sie entdecken. Anscheinend ist das jetzt die «christliche Realität».

Zumindest scheinen das viele unserer bekanntesten christlichen Leiter zu denken.

Den Fokus verschieben

Probieren wir einmal einen ketzerischen Gedanken aus: Angenommen, unsere Fehler passieren nicht trotz all dem, was wir tun, sondern gerade deshalb.

Um ein Beispiel zu nennen: Stellen wir uns vor, die Pädagogen, die unser Schulsystem entworfen haben, würden die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die schlechten Leistungen der amerikanischen Schulkinder nicht trotz all dem passieren, was in der Schule für sie getan wird, sondern vor allem aufgrund dessen, was ihnen beigebracht wird und wie. Oder nehmen wir an, der Gesetzgeber begänne darüber nachzudenken, dass unsere Unfähigkeit, mit der Staatsverschuldung oder der Gewalt auf den Straßen fertigzuwerden, nicht trotz allem, was der Gesetzgeber tut, vorhanden ist, sondern gerade deswegen.

Es mag schwerfallen, so einen Vorschlag ernst zu nehmen, aber wenn man sich einmal darauf einlässt, könnte man eine Basis für echte Lösungen finden im Blick auf all die Probleme, die gerade unlösbar erscheinen.

Ein führender amerikanischer Pastor klagt: «Warum ist heute die Kirche so schwach? Warum können wir von so vielen Bekehrungen berichten und von zahlreichen neuen Gemeindegliedern, und verlieren doch immer deutlicher jeglichen Einfluss auf unsere Kultur? Warum sind die Christen kaum noch von der Welt zu unterscheiden?»

Sollten wir nicht zumindest die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass dieses armselige Resultat nicht trotz unserer Lehre und der Art unserer Lehre herausgekommen ist, sondern genau deswegen? Könnten wir als Folge davon eher wahrnehmen, warum die Kraft Jesu und seines Evangeliums von der gewöhnlichen menschlichen Existenz abgeschnitten wurde, warum diese also abgetrieben ist und nicht mehr vom Strom seines Lebens der ewigen Art mitgenommen wird? […]

Das Evangelium als Sündenbewältigung

Die derzeitige Situation, in der das Bekenntnis des Glaubens wenig Einfluss auf das ganze Leben hat, ist nicht nur für unsere Zeit kennzeichnend, und sie ist auch keine ganz neue Entwicklung. Aber sie befindet sich im Moment in einem akuten Stadium. Die Geschichte hat uns an den Punkt gebracht, an dem wir meinen, die christliche Botschaft beschäftige sich im Wesentlichen nur damit, wie wir die Sünde bewältigen können: unser Fehlverhalten oder unseren Fehlcharakter und deren Folgen. Das Leben, unsere gegenwärtige Existenz, ist nicht mit eingeschlossen in dem, was zurzeit als der Kern der christlichen Botschaft betrachtet wird, oder es kommt nur am Rande vor. Das ist die Situation, in der wir uns heute befinden.

Wenn wir die Kluft zwischen der heute vorherrschenden Botschaft und dem normalen Leben begriffen haben, dann erklärt sich dadurch auch das oben beschriebene Versagen zumindest teilweise. Es war zu erwarten. Wenn wir das breite Spektrum christlicher Verkündigung und Praxis näher betrachten, sehen wir, dass auf dem rechten theologischen Flügel das Einzige, was besonders hervorgehoben wird, die Sünde des einzelnen Menschen ist. Auf dem linken wiederum ist es die Beseitigung sozialer oder struktureller Missstände. Das Evangelium unserer Zeit wird zu einem «Evangelium der Sündenbewältigung». Die Verwandlung unseres Lebens und unseres Charakters ist nicht Teil der Heilsbotschaft. Die alltägliche menschliche Realität in ihrer ganzen Tiefe ist nicht die Arena des Glaubens und des ewigen Lebens. Auf der rechten Seite des Spektrums ist Christsein eine Frage der persönlichen Sündenvergebung. (Wir erinnern uns an den oben beschriebenen Autoaufkleber.) Auf der linken Seite gilt man dann als Christ, wenn man sich aktiv für die Beseitigung sozialer Missstände engagiert. Ein Christ ist also entweder jemand, der bereit ist zu sterben und sich dem Gericht Gottes zu stellen, oder jemand, der sich eindeutig der Liebe und der Gerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft verpflichtet hat. Das ist alles.

Die geschichtliche Entwicklung, die zu all dem geführt hat, lief durch den Filter der Kontroverse zwischen Modernismus und Fundamentalismus, die das amerikanische Christentum jahrzehntelang beschäftigt hat und in der Tiefe immer noch äußerst wirksam ist. Folglich beharrt jeder dieser beiden Flügel darauf, dass das, was der andere für wesentlich hält, nicht als wesentlich betrachtet werden sollte.

Was rechter und linker Flügel jedoch gemeinsam haben: Keiner von beiden kann stimmige theoretische und praktische Kriterien vorlegen, die Menschen zu einer persönlichen Veränderung verhelfen, damit sie das Leben in Fülle empfangen und Gott gehorsam sind, wie das Neue Testament es betont und wodurch die Erlösung sich auch auf ihren Alltag auswirkt. Was als wesentliche Botschaft über Jesus gelehrt wird, besitzt hier keine natürliche Verbindung zu einem Leben in der Nachfolge Jesu.

Natürlich wurde nicht von Anfang an so über das Evangelium und das Christsein gedacht. Wer mit den hellen Seiten der Kirchengeschichte vertraut ist, wird dem zustimmen. Und auch heute noch gibt es leuchtende Ausnahmen, wenn auch seltene. Der einflussreiche anglikanische Bischof Stephen Neill zum Beispiel schreibt ganz einfach: «Christsein heißt, wie Jesus Christus sein», und: «Christsein ist abhängig von einer bestimmten inneren Verbundenheit mit dem lebendigen Christus. Durch diese Verbundenheit werden alle anderen Beziehungen des Menschen – zu Gott, zu sich selbst, zu anderen Menschen – verwandelt.»

Doch die unvermeidliche Frage, die sich daraus ergibt, lautet: Wer ist überhaupt ein Christ, wenn ein solcher Maßstab der authentischen Christusähnlichkeit angelegt wird? Sicherlich spiegelt dieser die biblische Lehre und die Höhepunkte der Kirchengeschichte zutreffend wider. Und die oben beschriebene deprimierende Statistik menschlichen Versagens könnte damit um ein Beträchtliches reduziert werden.

Daran besteht kein Zweifel! Was aber sagen wir angesichts der vielen Menschen links und rechts entlang des theologischen Spektrums, die sich heute als Christen bezeichnen, an denen aber kaum etwas Christus-Ähnliches zu finden ist und die keine Ahnung haben, dass dies überhaupt möglich wäre – die vielleicht sogar fest davon überzeugt sind, dass eine echte Christusähnlichkeit unmöglich ist? Welches Evangelium haben sie gehört?

Ausschnitt aus: "Gott. Du musst es selbst erleben." von Dallas Willard (S.81–93), Verweise sind im Buch zu finden.

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