«Anatomie eines Wunders» – ein Roman mit vielen Gesichtern

Zebras in Afrika und Frau

©unsplash/Adobe Stock

«Anatomie eines Wunders» ist ein autobiografischer Roman, der sich wie ein Krimi liest. Marianne, die Autorin und Protagonistin, arbeitet als Psychotherapeutin für Flüchtlinge und wird dabei mit den Abgründen menschlicher Existenz konfrontiert.

Durch die Begegnung mit zwei heldenhaften Flüchtlingen, deren Leben wegen ihres Kampfes gegen Menschenhandel in Gefahr ist, wird Marianne konfrontiert mit korrupten Machenschaften in ihrem Arbeitsumfeld und herausgefordert, mutiger ihrem Gewissen zu folgen.

Wieviel Kraft und Verantwortung in diesen Gewissensentscheidungen liegt, das wird ihr erst bewusst durch die ungeahnte Wende, die sich im Leben dieser Menschen anbahnt. Dabei ist sie nur ein Rädchen von vielen in diesem unglaublichen Geschehen …

Doch – es ist nicht einfach nur ein «Krimi». Es ist auch ein Buch über Psychologie, Philosophie, Theologie, ein zutiefst persönliches Buch über den langen Weg der Autorin hinein in ein vorsichtiges Gottvertrauen. 

Der biografische Roman ist multidimensional und hat viele Gesichter. Hier ein kleiner Einblick in die Hauptthemen des Buches:

1. Eine österreichische Familie in Ostafrika

Mit den Augen der Autorin, Marianne, aus deren Perspektive das Buch geschrieben ist, durchleben die Leser diese kulturelle Verpflanzung und erfahren auf anschauliche Weise, was es zu genießen gibt, wo es sich reibt und warum.

«Wie sehr die harte Lebensrealität diese Menschen prägte, wollten wir anfangs nicht wahrhaben. In unserer Naivität gingen wir immer wieder davon aus, dass unsere Werte und Prioritäten Allgemeingültigkeit hätten. Die oft so unerklärlichen Reaktionen dieser Menschen aber machten uns sehr bald klar, dass dem nicht so war. Ich erinnere mich an das große Aha-Erlebnis, als Toni, damals Projektleiter, Verdacht schöpfte, dass sein tansanischer Kollege Samuel sich aus der Projektkasse bediente. Sich seiner Verantwortung bewusst, forderte Toni ihn auf die Box zu öffnen, was Samuel mit offensichtlichen Ausreden versuchte zu vermeiden. Als Toni schließlich der Kragen platzte und er lautstark den Schlüssel verlangte, fand er seinen Verdacht bestätigt. Die Reaktion der afrikanischen Mitarbeiter auf diesen Zwischenfall verwirrte uns: keiner von ihnen sprach danach über den Diebstahl Samuels. Dass Toni seine Fassung verloren hatte, beschäftigte sie hingegen sehr. In ihren Augen war das der eigentliche Skandal …»

2. Die Begegnung mit Hammeso und Jala

Ein weiteres Thema ist die Begegnung mit zwei schwer traumatisierten äthiopischen Flüchtlingen. Sie entpuppen sich als die Helden dieser Erzählung. Marianne lernt sie im Rahmen ihrer Arbeit als Psychotherapeutin für urbane Flüchtlinge in Nairobi kennen, wo sie – sieben Monate vor ihrer Begegnung – nach lebensgefährlichen Erlebnissen im medizinischen Zentrum von UNHCR Zuflucht gefunden haben. Zutiefst betroffen von ihren unfassbaren Schicksalen versucht die Therapeutin sie nach bestem Wissen und Gewissen zu betreuen. Bei der Begleitung der beiden Flüchtlinge kommen jedoch schockierende Ungereimtheiten von Seiten der zuständigen Hilfsorganisation UNHCR ans Licht.: Die Familienzusammenführung wurde versäumt, die medizinische Versorgung verweigert, ihre Sicherheit wurde aufs Spiel gesetzt, denn Hammeso und Jala hätten längst ins Security Camp gebracht werden müssen, wo sie dort vor ihren Verfolgern sicher sein würden. Schließlich erbarmte sich eine mitfühlende Krankenschwester und forderte psychologische Betreuung für Hammeso und Jala.

Bei unserem ersten Meeting erzählte sie:     

«Ich habe die beiden schon länger beobachtet. Sie sind offenbar nicht miteinander verheiratet, aber sie scheinen sich gut zu kennen. Die Frau, Jala, hat regelmäßig Heul- und Schreianfälle, oft liegt sie dabei zusammengekrümmt am Boden und kann sich nicht beruhigen. Und Hammeso – er wirkt schwer depressiv, pflegt sich nicht, kommuniziert kaum. Er kann etwas Englisch und hat mir einmal erklärt, dass diese Frau nach ihrem Kind schreit. Wir wissen wenig über sie. Der zuständige Beamte aus dem UNHCR Headquarters, Herr Adam, war in all den Monaten nur einmal hier. Keiner weiß, warum die zwei noch im Rehab Zentrum sind. Sie sind nicht wirklich krank, außerdem sind sie als Schutzfälle eingestuft, bedürfen also besonderer Sicherheitsmaßnahmen, weil aufgrund ihrer Historie befunden wurde, dass ihr Leben in Gefahr sei. Sie sollten eigentlich längst im Security Zentrum untergebracht sein. Alles etwas unklar.»

Nach einer Sitzung, bei der Marianne den zuständigen Vertreter des UNHCR öffentlich fragt, warum Hammeso und Jala nicht längst ins Protection Camp übersiedelt worden sind,  erhält sie Ihre Kündigung mit einer fadenscheinigen Begründung … 

3. Der liebe Gott und das Leid

Hammeso und Jala glauben an einen guten Gott. Marianne eigentlich auch. Eigentlich. Denn angesichts der himmelschreienden Ungerechtigkeiten, mit denen sie sich durch Hammeso und Jala konfrontiert sieht, kommt ihr Glaube ganz schön ins Wanken.

Wieder war es das Beispiel ihrer beiden äthiopischen Klienten, das ihr die Kraft gab, auch im Schmerz den Blick zu heben, und weiter hartnäckig zu hoffen. Marianne lernt langsam tiefer zu verstehen, was es bedeutet zu glauben, was sie in einem Brief an Hammeso beschreibt:

«Du hast mich gefragt, wie man bloß eigentlich glaubt. Erinnerst du dich, Hammeso? Damals hat mich deine Frage in Verlegenheit gebracht, wie du sicherlich gemerkt hast. Inzwischen habe ich oft darüber nachgedacht. Heute kann ich dir meine Antwort geben. Nicht, weil ich darin Perfektion erlangt hätte – bei Weitem nicht! Doch die Monate mit euch haben mir vieles deutlich gemacht.

Glauben heißt, das letzte Fünkchen Hoffnung zu nützen, um auch die größte Angst im Licht zu verankern. Dieses letzte Fünkchen ist oft nichts anderes als das hartnäckige Vertrauen, dass irgendwo, in jedem bitteren Kreuz, das sich uns zumutet, neues Leben pulsiert.

Und glauben heißt, mich vom begrenzten Horizont der umgebenden Logik nicht einschränken zu lassen, sondern mich immer wieder auszustrecken nach dem endlosen Horizont Gottes, für den nichts unmöglich ist!

Glaube heißt aber auch, ausdauernd die Spannung zu halten am Weg vom Schmerz zur Heilung, von der Dunkelheit zum Licht, vom Krieg zum Frieden und zu verstehen, dass uns dieses schmerzliche Aus-Halten zu schöneren Menschen macht.»

4. Familienbande – wir schulden einander die Wahrheit

Im Laufe dieses Buches reflektiert Marianne die Beziehung zu ihren eigenen Eltern – was sie krank werden und was sie heilen ließ – aber auch ihre Rolle als Mutter und Ehefrau. Wie wichtig es ist, einander vor allem auch die schmerzhafte Wahrheit nicht vorzuenthalten: zum einen, weil der Schmerz erst erkannt werden will, bevor er heilen kann, und zum anderen, weil ehrliches Feedback uns hilft zu wachsen. Es braucht viel Mut, unsere Wunden zu zeigen, ohne zu wissen, ob sie gesehen werden können. Es braucht genauso viel Mut, jene Wunden anzuschauen, die wir anderen zugefügt haben. Marianne im Gespräch mit ihrer Supervisorin Holly:

«‹Auch wenn es sich erst ganz und gar nicht so anfühlt: Doch es ist ein ganz großes Geschenk, wenn ein Kind seinen Eltern die Wahrheit zeigt über den Schmerz, den es durch sie erlitten hat. Und die liebevollste Antwort der Eltern auf dieses Geschenk zeigt sich in ihrer Bereitschaft, sich von diesem Schmerz verteidigungslos be-treffen zu lassen. So kann Heilung und Wachstum geschehen – bei allen Beteiligten.›

Ich nickte zustimmend, bevor sie noch einmal ansetzte.

‹Aber damit noch nicht genug: Der letzte Schritt hin zu einer gelungenen Eltern-Kind Beziehung ist es, sich als Eltern diese Fehler zu verzeihen. Wir müssen einen Weg finden, Frieden zu schließen mit der Tatsache, unseren Kindern Schmerz zugefügt zu haben – wie groß der auch sein mag.›

‹Schwierig!›, entfuhr es mir.

‹Ja, schwierig – und sehr, sehr wichtig! Bleiben wir nämlich in der Selbstanklage stecken, so sind wir in Gefahr, unseren Kindern weiterhin zu schaden – auf ganz subtile Weise, und zwar, indem wir ihnen eine Opferrolle einsuggerieren: Ach, du armes Kind! Was musstest du doch leiden! Opfer zeichnen sich ja bekanntlich dadurch aus, dass sie hilflos und unglücklich sind, und die Ursache dafür immer im Außen suchen. Das ist wohl das letzte, was wir unseren Kindern wünschen, hab ich recht?›»

5. Als Psychotherapeutin in Kenia

Marianne hat gerade ihr Counselling Studium über eine englische Universität abgeschlossen und wird bereits angefragt, mit schwer traumatisierten Kindern in den Nairobi Slums zu arbeiten. Die Not ist groß, Therapeuten und Therapeutinnen Mangelware. Es ist ein Sprung ins kalte Wasser – der Rettungsring: die Supervisorin Holly. Mit ihr arbeitet sie durch die Herausforderungen, die sie in ihrer Arbeit durchlebt, und lernt zu erkennen, dass sie nur geben kann, was sie in sich selbst entwickelt hat.

«‹Langsam verstehe ich, was mich so immens herausfordert in diesen Begegnungen … Die Arbeit mit diesen Flüchtlingen zwingt mich geradezu meine bisherigen Grenzen zu erweitern, um ihnen für ihre Erfahrungen den nötigen Raum geben zu können. Kein Wunder, dass ich so erschöpft bin!› 

‹Richtig!›, bestätigte mich meine Supervisorin, ‹wir sind immer wieder herausgefordert zu wachsen, um ein größeres Fassungsvermögen zu entwickeln.

‹Und genau deshalb habe ich ein Problem mit dieser professionellen Distanz, Holly!

Ich warf das Polster auf den Fauteuil neben mir und rutschte kampflustig an den vorderen Rand meines Sessels.         

‹Worum es nämlich geht bei der therapeutischen Beziehung, das ist nichts anderes als genau das, worum es auch in jeder anderen Beziehung geht: Liebe und Treue. Das ist es doch letztlich, was Vertrauen schafft und Heilung bringt! Sorry, wenn ich das so unwissenschaftlich und unprofessionell ausdrücke, aber manchmal finde ich den psychologischen Fachjargon unnötig aufgeblasen …

Meine Arme trotzig verschränkend machte ich mich auf eine Zurechtweisung gefasst. Nun war es Holly, die sich aufrichtete und mich direkt ansah …»

6. Der Weg des Gewissens

Ein durchgängiges Thema dieses Buches ist die Frage nach der Stimme des Gewissens. Hammeso und Jala mussten ihr Land verlassen, weil sie auch trotz Inhaftierungen und Folter ihrem Gewissen gefolgt sind und gegen ein ungerechtes Regime demonstriert haben. Noch nie in ihrem Leben hatte es Marianne mit so mutigen Menschen zu tun. Zutiefst erschüttert von der Frage, wie sie wohl selbst handeln würde angesichts derartig widriger Umstände, ließ sich die Therapeutin in ihrer Arbeit vom Mut ihrer Klienten inspirieren und erlebte dadurch eine unerwartete Wende.

«Woher nur diese Kraft? Wie konnten Menschen wie Hammeso und Jala den Mut aufbringen angesichts der ständig lauernden Gefahr von Folter und Tod für ihre Überzeugung zu kämpfen? Handelten sie aus reinem Pflichtgefühl? Konnte allein Tugendhaftigkeit derartige Kräfte mobilisieren? Oder war es ein Handeln aus einem Gottvertrauen heraus, hoffend, beschützt und irgendwie doch belohnt zu werden für all die Opfer, die sie im Namen der Gerechtigkeit bereit waren zu bringen? Es war mir schlichtweg unvorstellbar.»

«Der einzige Weg, der zu Wundern führt, ist der Weg des Gewissens.» –Hammeso

Alle kursiv gedruckten Abschnitte sind Originalauszüge aus dem Buch. Marianne Glaeser steht für Lesungen zur Verfügung.

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