Aktuell aus Katar: WM in der arabischen Welt

Fußballfeld Katar

Die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar ist in vollem Gange und sucht ihre Halbfinalisten. Marianne Müller, die selbst einige Jahre in Katar gelebt hat, schenkt uns ihre Sicht auf die Ereignisse in Katar, inklusive dem Ausscheiden der deutschen National-Elf. Sie berichtet von dem Erleben der WM vor Ort und der Spannung, die zwischen unterschiedlichen Kulturen entstehen kann.

Obwohl ich nicht viel über Fußball weiß, verfolge ich gespannt die WM, denn ich kenne und liebe Katar – außerdem ist die Fußballbegeisterung auch in Saudi-Arabien, wo ich lebe, sehr groß. Als das Unfassbare geschieht und Saudi-Arabien sein erstes Spiel gewinnt, und zwar ausgerechnet gegen einen harten Konkurrenten, Argentinien, ist der Jubel hierzulande unbeschreiblich groß. In der Nacht nach dem Spiel kommt die Ankündigung: Jeder hat morgen frei! Schulen und Universitäten bleiben geschlossen, Ämter und Privatfirmen machen dicht, Meetings und Events werden verschoben. Alles muss verschoben werden, denn das ganze Land feiert!

Das Spannende an dieser Weltmeisterschaft ist, dass sie in einem arabischen Land ausgetragen wird, denn es geht bei einer WM bekanntlich nicht nur um Fußball. Vor und nach den Spielen wird gefeiert, getrunken und Party gemacht. Aber wie geht das in einem Land, in dem islamisches Recht herrscht?

Weltoffenheit

Mein 26-jähriger Sohn Jonas und einige unserer Freunde sind in den ersten zwei Wochen der Weltmeisterschaft in Katar. Es ist spannend zu hören, was sie erlebt haben.

Der erste Eindruck vom Land ist faszinierend. Arabische Kultur gemischt mit technischer Innovation und moderner Architektur. Die ultramoderne U-Bahn überzeugt, allerdings ist sie zumindest an den ersten Spieltagen überfüllt, und es gibt lange Wartezeiten. Aber nach wenigen Tagen wird es besser, und insgesamt ist es erstaunlich, wie reibungslos alles läuft. Ein Lächeln rufen die unzähligen Hilfskräfte hervor, die vor den Stationen postiert pausenlos «this way» rufen, während sie gleichzeitig mit einer riesigen leuchtenden Hand den Weg weisen.

Auch in den acht Stadien gibt es nichts zu bemängeln. Ein großes Team an Helfern weist die Plätze zu, und wie in jedem anderen Land werden Getränke und Snacks verkauft, mit dem Unterschied, dass Alkohol nur in bestimmten Fan-Bereichen angeboten wird. Vielleicht ist das der Grund, warum nur wenige deutsche Fans in der Stadt anzutreffen sind – sie sehen sich die Spiele vermutlich am liebsten mit einem Bierchen an.

Auch in Katar wird vor und nach den Spielen gefeiert, und es scheint, dass dieses konservative Land dafür recht viele Zugeständnisse für seine westlichen Besucher macht. So gibt es einen Strand, «Katara» genannt, an dem selbst nicht-muslimische Besucher angesichts der freizügigen Bademode der Gäste schockiert sind. In den Hotels, auf den Kreuzfahrtschiffen und an anderen Plätzen der Stadt wird Alkohol ausgeschenkt, und in den frühen Morgenstunden wanken Betrunkene nach Hause. Nicht nur westliche Gäste betrinken sich, Jonas trifft auf eine Gruppe von Männern aus Saudi-Arabien, die sich vor lauter Feiern kaum noch auf den Beinen halten können.

Als ich Jonas nach seinem eindrücklichsten Erlebnis frage, erzählt er, wie er nach einem Treffen mit Freunden nachts um fünf Uhr vor einem Hotel auf seinen Uber wartet. Ein Auto fährt vorbei, und er sieht darin eine halb bewusstlose junge Frau, die vom Hotel nach Hause gebracht wird. Zu viel Alkohol? Drogen? Oder steckt etwas Schlimmeres dahinter? Er hat den Eindruck, sie ist eine der Frauen, die in diesen Tagen als Prostituierte arbeiten – extra eingeflogen, damit keine Wünsche offenbleiben.

Gastfreundschaft

Die große Stärke Katars ist seine Gastfreundschaft. Das wird auch in diesen Tagen deutlich. Jonas und unsere Freunde berichten von mehreren eindrücklichen Begegnungen mit Katarern. Es ist leicht, mit Fremden ins Gespräch zu kommen, und dabei ist es erstaunlich, wie großzügig die Einheimischen sind. Immer wieder wird spontan eingeladen – beispielsweise zu einem Museumsbesuch, einem Wüstenausflug, der gemeinsamen Schau eines Spiels oder einem festlichen Essen in einem Madschlis, dem arabischen Männer-Wohnzimmer. Ich erlebe so eine offenherzige Gastfreundschaft in Deutschland nicht.

Respektlosigkeit

Da Katar seine Gäste mit solch einem Einsatz willkommen heißt, ist ihre Enttäuschung über die Haltung der deutschen Spieler verständlich, die vor dem Spiel ihre Münder zuhalten, um auf fehlende Meinungsfreiheit hinzuweisen und beim Spielen eine Regenbogen-Armbinde tragen wollen. Ein Rätsel ist, warum es auf einmal vor allem um die LGBTQ-Bewegung geht und kaum noch um die ausgebeuteten Arbeiter und unterdrückten Frauen, ganz zu schweigen von dem Recht auf freie Religionsausübung, über das kaum gesprochen wird. Dabei werden nach wie vor Christen in Katar verfolgt. Das Land steht auf dem Weltverfolgungsindex von Open Doors weit oben.

Wie dem auch sei, die Antwort der deutschen National-Elf auf die Gastfreundschaft Katars war respektlos. Sie hatten sich entschieden, bei der WM teilzunehmen. Doch es scheint, es war kein richtiges Ja, sondern eher ein «Wir zeigen euch, wie man zu leben habt»-Ja.

Ich stelle mir vor, ich lade Gäste ein, gebe mir große Mühe, alles schön herzurichten und scheue keine Kosten, damit sich alle wohlfühlen. Endlich kommen meine Besucher, doch sie sind unhöflich, sie kritisieren mich und wissen alles besser. Das würde mich verletzen, und diese Reaktion ist auch bei den Katarern herauszuhören. Ihr Fazit: «Wenn wir euer Land besuchen, respektieren wir eure Gesetze, Traditionen und Gebräuche. Warum macht ihr das nicht, wenn ihr in unser Land kommt?» Als die deutsche Mannschaft ausscheidet, ahmen Araber hämisch die Geste der Spieler nach. Mit der einen Hand halten sie den Mund zu, mit der anderen winken sie, um die Mannschaft fröhlich zu verabschieden.

Egal ob es um Arbeiter aus armen Ländern geht, um Frauen, Homosexuelle oder Menschen, die zum Christentum konvertieren – Menschenrechtsverletzungen dürfen nicht geduldet werden. Aber es gibt bessere Wege, für dieses Anliegen einzustehen. Und die Bedenken sollten auch beim Aushandeln eines Gas-Deals eine Rolle spielen.

Zuhören und lieben

In der arabischen Welt ist Religion im Alltag viel präsenter als in Deutschland, so werden in diesen Tagen unter dem WM-Besuchern viele Gespräche über den Glauben geführt. Doch dabei kommt es oft zu einem Schlagabtausch. Hört einer dem anderen wirklich zu, oder wartet jeder nur ab, bis er wieder dran ist und für seinen Glauben werben kann?

Ich glaube, dass Jesus die Wahrheit ist, und dass Gott unser Reden über ihn gebrauchen kann und wird, auch wenn wir dabei nur uns selbst sehen. Doch ich glaube auch, dass wir bessere Zeugen für diese Wahrheit sein können, wenn wir unser Gegenüber ernst nehmen. Sein Leben und seine Kultur kennenlernen. Den Menschen wirklich sehen. Bewusst zuhören. Leben teilen und Zeit miteinander verbringen.

Ich glaube, Veränderung geschieht nur da, wo eine liebevolle und verständnisvolle Beziehung aufgebaut wird, die von gegenseitigem Respekt gekennzeichnet ist. Wo wir den anderen höher achten als uns selbst. Und das ist sicher die beste Voraussetzung, damit der andere wirklich zuhört, wenn wir von Jesus erzählen. Das ist es, einander zu lieben.

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