Hoffen trotz Multipler Sklerose
Können Flügel wachsen, wo sich Schmerz, Leid und Krankheit täglich zeigen? Seraina Hintermann-Famos leidet seit über 20 Jahren an einer schweren Form der Multiplen Sklerose. Ihre Biografie «Vogel ohne Flügel» beschreibt das Auf und Ab ihrer kranheitsbedingten Einschränkungen und den Umgang mit ihren Umständen im Glauben an Gott. Eine Rezension von Reto Parpan.
Rita Famos umreisst im Vorwort treffend, worum es in dieser sieben Teile umfassenden Abhandlung geht:
«Vor uns liegt ein eindrücklicher Einblick in ein Leben mit MS. In dem Buch ‹Vogel ohne Flügel› lesen wir von einem ehrlichen, ungeschönten Umgang mit dem täglichen Leiden, den Schmerzen, dem Zweifel und der Wut, die diese Krankheit verursacht. Und gleichzeitig erfahren wir, wie es einer authentischen, aufrichtigen, vom christlichen Glauben getragenen, intelligenten und humorvollen Frau gelingt, ihren Lebensmut immer wieder zurückzugewinnen – trotz des Leids, das ihr diese heimtückische Krankheit, deren Ausgang ungewiss bleibt, zufügt.»
Die Autorin Seraina Hintermann selber schreibt zur Absicht ihrer Abhandlung in der Einleitung:
«Ich möchte mit diesem Buch Menschen in schwierigen Lebenssituationen helfen, konstruktiv mit den Herausforderungen umzugehen, die ihnen im Leben begegnen. Ich will ihnen Mut machen, sozusagen den Stier bei den Hörnern zu packen, nicht aufzugeben, sich nicht entmutigen zu lassen und trotz allem an Gott zu bleiben.»
Kraftquellen in Zeiten schwerer Not
Der Glaube an Gott ist für die Autorin die wichtigste Kraftquelle, die es ihr ermöglicht, trotz all ihrer krankheitsbedingten Einschränkungen, Beschwerden, Ängsten und Verlusten weiterhin Ja zum Leben zu sagen. Es ist bei ihr kein abgehobener Glaube, der vorbei am Leben praktiziert wird und über die Schmerzhaftigkeit ihrer Realität hinwegsieht, sondern ein Glaube, der auch ein Ringen mit Gott einschliesst, der Phasen ernsten Zweifels an Gottes Güte und Momente der Verzweiflung mit Suizidimpulsen durchläuft. Die Verfasserin setzt sich offen mit der unbequemen Theodizee-Frage auseinander: «Wie kann ein allmächtiger und gütiger Gott so viel Leid und Boshaftigkeit in unserer Welt zulassen?».
Eine zweite Kraftquelle ist für die Autorin die von Viktor E. Frankl (1905-1997) entwickelte, auf die Sinnfrage zentrierte Psychotherapie, genannt Logotherapie («Logos» meint «Sinn»). Frankl war Jude und wurde während mehr als drei Jahren in verschiedenen deutschen Konzentrationslagern gefangen gehalten. In seiner kurz nach seiner Befreiung verfassten Abhandlung «…trotzdem Ja zum Leben sagen» schildert er, welche Resilienzfaktoren ihm geholfen haben, all die Unmenschlichkeiten, denen er im KZ machtlos ausgesetzt war, zu (er)tragen.
Als dritte Kraftquelle erlebt die Autorin ihre Beziehungen zu Mitmenschen, allen voran die Liebesbeziehung zu ihrem Ehemann. Dieser kommt an mehreren Stellen der Abhandlung selber zu Wort. Die Vielfalt gemeinsamer Erlebnisse eröffnet in ihrem von der Krankheit gezeichneten Leben Inseln des Glücks. All die Menschen, die sie liebevoll begleiten und unterstützen, verleihen ihrem Leben, das nach und nach ihre Flügel – ihre Leistungsfähigkeit, ihre Gesundheit, ihre Eigenständigkeit – verloren hat, neue, andersartige Flügel.
Ein Umriss
Zum Einstieg lässt die Autorin die Lesenden teilhaben an ihrem heutigen Alltagsleben (Teil 1). Sie nimmt sie mit in den detailliert geschilderten Ablauf eines «normalen Tages». Sie berichtet, wie sie ihre von qualvollen Krämpfen und Schlaflosigkeit durchzogenen Nächte erlebt. Sie schildert, wie es ihr gelingt, aus dem Bedauern ihrer Verluste herauszutreten und – obwohl inzwischen rund um die Uhr auf Hilfe anderer angewiesen - täglich nach verbleibenden «Resten» an positiven Lebenschancen und Möglichkeiten, nach noch offenen Freiräumen von Eigenständigkeit in der Lebensgestaltung Ausschau zu halten.
Sie gibt einen Rückblick auf ihr Leben vor der Erkrankung (Teil 2): auf all das, was da (noch) möglich war, auf das, worauf sie stolz sein darf, auf das, was sie glücklich machte und wofür sie dankbar ist.
Sie berichtet in Teil 3 vom Schock der ihr schonungslos mitgeteilten Diagnose «Multiple Sklerose» im Jahre 2001 (sie war damals 37) und der fatalen Verlaufsprognose «primär progredient» (sich zunehmend verschlechternd). Diese Vorhersage hat sich in der Folge bewahrheitet. Sie ist inzwischen fast gänzlich gelähmt. In diesem Zusammenhang (und ausführlicher nochmals in Teil 6) bringt sie ihre gegenläufigen Erfahrungen mit dem Gesundheitswesen zur Sprache. Sie zeigt z.B. auf, wie wohltuend und ermutigend einfühlende, aber auch wie erschütternd und herabwürdigend lieblose Gesundheitsfachleute auf einen leidenden Menschen wirken.
Die «Trotzmacht des Geistes»
Seraina Hintermann studierte Psychologie, machte eine Ausbildung in Einzel-, Familien- und Paartherapie, später (nach Ausbruch ihrer Krankheit) zusätzlich in Logotherapie und arbeitete als Psychotherapeutin - so lange, bis ihre fortschreitende Krankheit das nicht mehr zuliess. Sie musste ihren Beruf, den sie mit viel Freude ausübte und in dem sie selber vielen Menschen aus verfahrenen Lebenssituationen herausgeholfen hat, aufgeben.
An Tagen, an denen es ihr schwer fällt zu glauben, dass ihr Leben trotz ihrer Krankheit sinnvoll ist, in Momenten, in denen sie besonders stark unter der Enge ihrer Grenzen, unter ihrer Abhängigkeit von anderen leidet und ihrem früheren gesunden Leben nachtrauert, findet sie Halt in Einstellungen, Überzeugungen und Haltungen, die Frankl im KZ, für sie vorbildhaft, vorgelebt und danach durch sein ärztliches Wirken notleidenden Menschen nähergebracht hat. Frankl stand im KZ angesichts der erfahrenen Erniedrigungen manchmal selber nahe am Suizid. Was ihn zum Weiterleben ermutigte waren vor allem sein Vertrauen in die Wirksamkeit seiner geistigen Widerstandskräfte – er bezeichnete diese gesamthaft als «Trotzmacht des Geistes» - sowie seine Überzeugungen von der Unzerstörbarkeit der Würde der menschlichen Person und von der bedingungslosen Sinnhaftigkeit des Lebens.
Durch Frankl gewann die Autorin eine neue Sicht auf ihr schweres Schicksal (Teil 4). Sie entdeckte neue Möglichkeiten einer aktiven und sinnerfüllten Lebensgestaltung trotz aller Einschränkungen. Das verhalf ihr dazu, sich über eine passive, von Selbstmitleid durchzogene Opferrolle zu erheben.
Die von Frankl aufgezeigten «drei Wege zum Sinn» machten ihr bewusst, dass Sinn nicht nur im Tun und Leisten – durch Verwirklichung schöpferischer Werte – ins Leben fliesst, sondern auch im Erleben – durch Freude an den Schönheiten der Natur und Kultur, durch Liebeserfahrungen - und letztlich durch frei wählbare Einstellungen gegenüber unveränderbarem Leid.
Die Autorin kann heute kaum noch schöpferisch tätig sein (als Therapeutin Menschen unterstützen, Brot backen, malen, ihren Haushalt führen…). Auch die Entstehung dieses Buches war nur mit Hilfe ihrer Co-Autorin und Freundin Vera Schindler-Wunderlich möglich. Sie kann aber weiterhin, und wie sie schreibt sogar intensiver als vor Ausbruch der Krankheit, den geliebten Duft von Blüten und Blättern, vom Holz und Boden im Wald wahrnehmen und sich daran erfreuen. Als kostbarste Erlebniswerte erfährt sie ihre täglichen Liebeserfahrungen. Schliesslich gewann sie gegenüber der Unheilbarkeit ihrer Krankheit und den daraus erwachsenden unabwendbaren Einschränkungen eine Einstellung, die ihr Schicksal erträglicher werden lässt: das Bewusstsein, frei entscheiden zu können, wie sie ihr schweres Los (er)trägt. Sie wertet es als «eine bemerkenswerte Stärke, trotz Leiden eine positive Einstellung zum Leben zu erwerben und zu erhalten» (S.69) – dies in Anlehnung an Frankl, der eine solche Einstellung als eine «Höchstleistung» würdigt.
Ein neues Wozu
In den letzten Teilen der Abhandlung greift die Autorin Themen auf, die nicht nur in ihrem Leben, sondern im Leben eines jeden Menschen bedeutsam sind. Denn kein Menschenleben ist verschont von leidvollen Erfahrungen, von Verlusten, von Schmerz und Trauer, von Ängsten und Enttäuschungen, oft auch von Herausforderungen, die an die eigenen Grenzen führen und mit den vertrauten Denkmustern und Handlungsstrategien nicht zu bewältigen sind. «Wie weiter … trotzdem»? Vor diese Frage sieht sich jeder Mensch schon mal gestellt.
In solchen Lebenssituationen geht es nach Auffassung der Autorin darum, Fixierungen loszulassen, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen, die Aufmerksamkeit umzulenken, im Extremfall ein neues «Wozu» des Lebens zu finden. Wegweisend ist für die Autorin die von Frankl wiederholt zitierte Botschaft von Nietzsche: «Wer ein Warum <sprich: Wozu> im Leben hat, erträgt fast jedes Wie». Der Einbruch Ihrer Krankheit zwang sie zur Suche nach einem neuen «Wozu». Kurz nach Bekanntgabe ihrer Diagnose fasste sie den Entschluss: «Ich möchte jemand sein, der etwas zu sagen hat» (S. 13). Ihr Wille zu diesem Lebenssinn wird in der vorliegenden Abhandlung auf eindrückliche Weise umgesetzt.
«Hundert Gründe, dankbar zu sein» lautet eine Überschrift. Die Autorin hätte «hundert Gründe zur Klage». Diesen setzt sie entgegen: «Ich persönlich habe gelernt, mein Leben aus einer dankbaren Perspektive statt durch die Brille der Verbitterung anzuschauen. Dadurch konnte ich tatsächlich entdecken, was ich alles durch die MS ‘gewonnen’ habe.» (S.78). Als erlebte «Krankheitsgewinne» erwähnt sie: Menschen die für sie Zeit nehmen und sie in ihrer Hilflosigkeit unterstützen, die Vertiefung der ehelichen Beziehung, die gemeinsame Reifung der ganzen Familie, die gewonnene Zeit für Erlebniswerte, Begegnungen mit lebensermutigenden Vorbildern. Speziell hervorgehoben wird an anderer Stelle die von ihr in der Krankheit besonders deutlich spürbare Wirksamkeit des Humors als Kraft, die ihr dazu verhilft, sich selber «aus einem gewissen Abstand» zu betrachten (S.128). Diese Selbstdistanzierung verschafft ihr eine gewisse Erleichterung.
Hoffnung schafft Resilienz
«Was kann/darf ich in einer aussichtslosen Situation noch hoffen?» «Ist nicht bei jeder Hoffnung die Enttäuschung schon vorprogrammiert?» «Ist Hoffen also nicht ein gewagtes Abenteuer?» Mit diesen Fragen setzt sich die Autorin in Teil 5 auseinander. Den Anstoss dazu gab, wie sie berichtet, die von ihrem jüngsten Sohn einmal gestellte Frage, was sie tun würde, wenn sie wieder gesund wäre und wieder besser gehen könnte. Aus Angst vor falschen Hoffnungen und Enttäuschungen wies sie die Frage zunächst zurück. Im Nachhinein aber erkannte sie darin die auch von ihr in Therapiegesprächen eingesetzte «Wunderfrage»: «Was wäre, wenn Sie eines Tages aufwachen würden und all Ihre Probleme wären weg?» Mit dieser Frage wird das ständige Kreisen um die Probleme durchbrochen und die Aufmerksamkeit weggelenkt von den Defiziten und Hindernissen und hingelenkt auf eigene Potenzialen und Resilienzfaktoren. Resilienz ist in den Augen der Autorin ein «Geschenk», das aber nur zur Geltung komme, wenn sie diese Resilienz «täglich, wenn nicht stündlich, einübe» (S.128).
Hoffen richtet sich gewöhnlich auf etwas ganz Bestimmtes, und darauf bleiben die Hoffenden meist fixiert. Wie enttäuschungsanfällig solches Hoffen ist, musste die Autorin immer wieder bitter erfahren. Eine ganz andere Art der Hoffnung wird ihr durch den tschechischen Dramatiker und Politiker Vaclav Havel eröffnet. Sie zitiert Havel (S.93): «Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht».
Diese Sichtweise führte bei der Autorin zu einer wegweisenden Horizonterweiterung. Sie vermittelte ihr einen praktikablen Umgang mit enttäuschten Hoffnungen – allem voran mit ihrer Enttäuschung, dass Gott, auf den sie so sehr vertraut, ihre Bitte um und ihre Hoffnung auf Heilung bislang nicht erfüllt hat. Sie verbindet Havels Statement mit ihrer Glaubensüberzeugung: «Gott weiss, was für mich gut ist» und findet so zur Annahme, dass ihre Krankheit in einem übergeordneten, ihr verborgenen Sinnzusammenhang steht. Daraus leitet sie die Aufforderung ab: «Ich muss immer wieder, manchmal täglich, üben, mein Hoffen nicht allein auf eine körperliche Heilung zu fixieren, sondern das umfassende Heil, das weit über dieses Leben hinausreicht, im Auge zu behalten.» (S.96). Es könnte für Gott also mehr Sinn machen und besser für sie sein, dass sie mit der Krankheit lebt und sie aushält, statt von ihr befreit zu werden. Nur ein tiefgläubiger Mensch kann so denken.
Heiterkeit und Demut
Es wäre für die Autorin naheliegend gewesen, ihre vom Glauben getragene Art der Krankheitsbewältigung allen von unabwendbarem Leid Geplagten als Rezept anzupreisen. Das liegt ihr aber fern. Sie beansprucht in keiner Weise, dass ihr Weg der einzig richtige sei. So sieht sie auch im Glauben «weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für Heilung» (S.97). Sie bleibt in ihren Ausführungen stets bei sich. Sie spricht nicht als nach aussen gerichtete Ratgeberin, sondern als Mensch von innen heraus, aus der Warte ihres eigenen Erlebens, und überlässt es den Lesenden, was diese auf sich übertragen können und möchten.
Diese Zurückhaltung, dieser Respekt für andere Wege und Sichtweisen ist kennzeichnend für die Autorin. Sie bleibt durchwegs bescheiden. Sie stilisiert sich in keiner Weise zum Vorbild hoch (obwohl sie in hohem Masse eines ist). Und sie wirkt stets authentisch, beschönigt nichts, legt auch ihre inneren Konflikte, Zweifel und Schwächen offen. Im Buch spricht ein leidender und kämpfender Mensch, der Menschen berührt, kein unnahbarer Übermensch, der souverän über allem und allen steht.
Last not least: Seraina Hintermann ist durch alles hindurch ein Mensch geblieben, der trotz allem gerne lacht und noch immer lachen kann. Das sagt sie selber von sich. Die ins Buch aufgenommenen Fotos, auf denen sie herzhaft lacht, bezeugen dies. Was Seraina Hintermann erlebt ist erschütternd, doch die Art, wie sie darüber schreibt, hinterlässt auch eine Spur von Heiterkeit.
Seraina Hintermann-Famos mit Vera Schindler-Wunderlich: Vogel ohne Flügel. Vom Ringen mit Gott. Und vom Freisein trotz Multipler Sklerose. Fontis-Verlag Basel 2023, 151 Seiten