Einblick in die Welt eines hochbegabten Autisten
Raphael Müller ist stumm, autistisch und hochbegabt. Der 15-Jährige hat mit seinem Erstling „Ich fliege mit zerissenen Flügeln“ eine beeindruckende Autobiografie veröffentlicht.
Von Matthias Mockler
Dass Raphael Müller ein Genie ist, blieb viele Jahre unentdeckt. Die Ärzte gingen in seinen ersten Lebensjahren sogar vom glatten Gegenteil aus. Der Junge war unfähig zur Kommunikation, IQ gegen null, gefesselt an den Rollstuhl, regelmäßig von epileptischen Anfällen geplagt – für die Fachleute ein hoffnungsloser Fall. Doch nur vermeintlich. Mittels Gestütztem Schreiben konnte sich Raphael mit sechs Jahren zum ersten Mal verständlich mitteilen. Was dabei herauskam, verschlug Ärzten und Angehörigen den Atem: Ohne jeden Unterricht konnte er lesen, schreiben und rechnen.
Autodidakt mit fotografischem Gedächtnis
„Atypischer Autismus“ lautete die Diagnose. Ausgelöst durch einen Schlaganfall vor der Geburt. Die dadurch entstandenen Defizite waren nur die sichtbare Folge gewesen. Welche Fähigkeiten sich im Verborgenen entwickelt hatten, kam nun nach und nach ans Licht. Gestützt auf die Hand der Mutter teilte Raphael per Computer mit, was wirklich in ihm vorging. Dank enormer autodidaktischer Fähigkeiten hatte er sich Lesen in den ersten Lebensjahren selbst beigebracht. Sein fotografisches Gedächtnis half ihm dabei. In seinem Gehirn sind selbst die Bilder von Schriftzügen aus frühester Kindheit abgespeichert.
Wissenschaftler staunen
„Schreiben ist mein Lebenselixier, mein Tor in die Freiheit eurer Welt, meine Brücke zwischen den Welten“, sagt Raphael heute. Besonders Romane und Gedichte haben es ihm angetan. Seit mehreren Jahren nimmt er an den Lyrikwettbewerben des Frankfurter Literaturverlags und der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte teil. Jedes Mal wurden seine Werke in die Anthologie aufgenommen. Seine Leser bringt der Jugendliche regelmäßig zum Staunen. Dr. Pius Thoma von der Fakultät für Grundschulpädagogik der Universität Augsburg urteilt über eines von Raphaels frühen Gedichten: „Es war mir fast unmöglich, diese Verse dem entwicklungsgemäßen sprachlichen und geistigen Schaffen eines achtjährigen Kindes zuzuordnen.“ Das Misstrauen habe sich nach einer persönlichen Begegnung in „Staunen, Bewunderung und Freude“ verwandelt.
Einblicke in die Welt eines hochbegabten Autisten
„Ich fliege mit zerrissenen Flügeln“ hat Raphael Müller seine Lebensgeschichte genannt, die jetzt im Fontis-Verlag erschienen ist. Darin gibt er seltene und intime Einblicke in die Welt eines hochbegabten Autisten. Gleichzeitig ist das Buch voller Poesie: Die Erzählung wechselt sich mit selbst geschriebenen Gedichten ab. Es sind Texte aus einem Paralleluniversum – eindringlich, nah, existenziell. Raphaels Fähigkeiten sind schier unglaublich. Vielleicht hat er sich deshalb dazu entschlossen, verschiedenen Wegbegleitern ein eigenes Kapitel zu überlassen. Hier sprechen neben der Mutter auch Lehrer, Studenten und Universitätsdozenten über ihre Begegnungen mit dem sprachlich versierten 14-Jährigen. In Ihren Zeugnissen mischen sich Staunen, Faszination und Bewunderung mit Dankbarkeit, Raphael kennen zu dürfen. „Ich möchte Brücken bauen“, schreibt Raphael am Ende seines Buchs. Mit seinem ehrlichen und erfrischend positiven Werk wird ihm das wohl gelingen.